… Johannes Kimstedt intendiert in seinen Bildern das Zeigen des „Nichts“, das zwischen den formalen Elementen seiner Malerei aufscheint und ein wichtiger Topos der Moderne ist. Das „Nichts“ ist dabei nicht als die Negation des Seienden zu verstehen, sondern als reduktionistischer Akt, eine leere Fläche jenseits von normativen, mimetischen und symbolischen Ansprüchen zu füllen. Es spiegelt eine Ästhetik der Absenz wider. Die bewusste Nichtambition zur Darstellung, sondern – so Kimstedt selbst – „die Schönheit des Fundamentalen auf der Leinwand festhalten zu wollen, impliziert jedoch nicht eine Verhaftung in formalen Fragestellungen. Im Gegenteil, der Künstler möchte nicht über diese Elemente oder durch eine aufwendig angewandte Technik vom Wesentlichen – dem Nichts – ablenken. Referenzlosigkeit erscheint hier als befreiender Akt. Das Bild wird als Partitur gemeinsamer Deutungsarbeit zur Disposition gestellt. (1) Es gibt kein Rätsel, welches zu lösen wäre.

Die Frage nach dem „Nichts“ ist in der Malerei nicht getrennt von der Erforschung des Raumes und seiner Wahrnehmung zu betrachten. Wie ein roter Faden zieht sich die abstrakte, ungegenständliche Auseinandersetzung damit durch das Oeuvre des Künstlers. Über die ontologische Erkundung des Raumes tastet er sich an die Frage der Form und Verfasstheit von Wahrnehmung, die er als subjektiv begreift, heran. Der Begriff der Heterotopie mag Aufschluss darüber geben, was Kimstedt eigentlich meint. Heterotopien sind wirkliche Orte, die keine sind. Es sind Orte, die in der realen Welt als Widerlager eingeschrieben sind und Bestehendes reflektieren können. In heterotopen Orten ist vieles möglich: Sie überschneiden sich, sind nicht manifest, bestehen als Gegenplatz und vermögen mehrere Räume gleichzeitig zuzulassen. (2) Es sind Utopien, „die einen genau bestimmbaren, realen, auf der Karte zu findenden Ort besitzen“. (3) Orte außerhalb aller Orte und doch verortbar.

Johannes Kimstedt erschafft in seinen Bildern ebenfalls unterschiedliche, nebeneinander stehende Orte, die er zur Disposition stellt. Es sind Räume, die keine sind, da sie sich erst durch den Rezipienten zu eröffnen und zu begründen scheinen. Die Leinwand wird durch den Raum vor ihr verkomplettiert. Dem Rezipienten eröffnet sich somit ein Gedankenraum, der sich im Dazwischen manifestiert. Gleichzeitig vermitteln die Bilder eine unendliche Fortsetzbarkeit, scheinen die Bilder doch über die Grenzen ihres materiellen Trägers hinauszureichen.

Johannes Kimstedt verweigert sich nicht der Leinwand, sondern füllt diese mit präzise gesetzten, abstrakten Formen. Es geht nicht um die leere Leinwand, wie bei Robert Rauschenberg, oder um die Zerstörung der Leinwand, wie bei Lucio Fontana. Kimstedt will sich dem kunsthistorischen Ballast und Pathos entziehen und hütet sich gleichsam davor, das bereits Gewesene zu repetieren. Sein Anliegen ist es nicht, die Grenzen der Malerei auszuloten, sondern im Gegenteil das Medium in seiner Simplizität als Projektionsfläche zu nutzen. Für die Kunstgeschichte ist dies ein wichtiges Unterfangen…

 

(1) Beat Wyss, „Vom Bild zum Kunstsystem“, Köln: Verlag der Buchhandlung Walther König, 2006
(2) Michel Foucault, „Andere Räume“ (1967) in „Politics-Poetics. Das Buch zur Dokumenta X“, Ostfildern: Hatje Cantz Verlag, 1997, S. 264 ff
(3) Michel Foucault, „ Die Heterotopien“ (1966) in „Michel Foucault. Die Heterotopien.Les hétérotopies Der utopische Körper. Le corp utopique- zwei Radiovorträge“ zweisprachige Ausgabe, Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag (2005), S.9

(aus: Lisa Mazza in Katalog Johannes Kimstedt – ÜBER NICHTS UND NICHTS – im Kulturforum Lüneburg 2007)

 

 

…man möchte sagen, dass ein Bild, anvertraut der langen Geschichte der Malerei, plötzlich zum Spielfeld wird für Figuren, die gleichsam nach Spielregeln darauf verteilt sind. Oder dass ein Stück Material, ob nun Holz, Styropor oder raues Papier mit seiner Struktur die flüchtige Handschrift befestigt.
Dann doch, wenn das Bild nach einem Rahmen verlangt, also nach allen Seiten eine feste Begrenzung, stellt sich in der Arbeit von Johannes Kimstedt noch eine andere Frage. Die des Ausschnitts aus einer umfassenden Realität, in der das Bild zu einem besonderen Halt wird, der, und das scheint mir bedeutsam, zugleich ein Vorher und Nachher einschließt. Ein Moment, das die Bilder und grafischen Blätter nicht nur kennzeichnet als Ausschnitt aus einem Kontinuum von Raum, sondern begreifbar macht als eine angehaltene Zeit.

 

(aus der Rede von Ursula Meyer-Rogge zur Ausstellungseröffnung: Johannes Kimstedt – ÜBER NICHTS UND NICHTS – im Kulturforum Lüneburg 2007)

 

 

Linienpaare 03 – Eine Strategie des Bildermachens

Vorgabe ist die „leere“ Fläche, übliche Formate wie ein aufgeschlagenes Heft.

Nach dem Regelwerk des Abtastens , Scannens der Fläche werden horizontale Linien gezogen, die jede der Flächen systematisch überspannen.
Werden nach Beendigung des Vorgangs die Linien gelesen, so sind sie selbst Schrift und mögliche Botschaft; die Zwischenräume sind scheinbar: Nichts (gemessen an dem, was sie bei genauerer Beachtung werden).
Die Linienpaare lenken aber auf die Zwischenräume zwischen den Linien: schmal, breit, schwingend, etc..
Wird nun Liniatur – das System – assoziiert wegen der Zwischenräume und wegen der annähernden Regelmäßigkeit, verliert die Linie selbst ihren Schriftcharakter, ihre potentielle Botschaft, und wird reine Grenze der Räume, die ihrerseits „beschreibbar“ im direkten Wortsinn sind. Die Beschreibbarkeit der Räume wird durch das Nicht-Sein von etwas erkannt. Bleibt der Zwischenraum „leer“, wird er dennoch mit den Augen begriffen und beschrieben. Nun ist die Linie bestenfalls vorüber gehend Hilfsmittel geworden zur Definition von Räumen. Sie existiert „körperlich“ nicht mehr, sie ist jetzt im Wechsel mit den leeren Räumen: Nichts (gemessen an dem, was sie anfänglich „bedeutet“ hat).
Die Linie wird zur gedachten Linie; ihre Bewegung und ihre Struktur verschwinden zugunsten der Funktion „Raumteiler“.
Im Weiteren kann das Bewusstsein beim Betrachten wieder zur Linie als Schrift zurückkehren; der Wechsel von Nichts und Nichts wiederholt sich.
Beide: Linien und Zwischenräume – sind als voneinander Abhängige das Systemische: Ein Heikles im System.

 

(vergleiche auch „Linientreu“ und „Linientrio für Köln“)
Johannes Kimstedt 2006

 

 

Linientreu 2005

Von links oben nach rechts unten gelesen wäre dies eine chronologisch ablaufende, lineare Geschichte. Die Augen können sich aber verirren in den Schnittstellen und zwischen den Zeilen dergestalt, dass ein Hin-und-Her, ein Springen und Flirren entsteht, ein Vergleichen, welches Halt finden möchte in der Suche nach dem System, dem Systematischen in den drei benachbarten, einander angrenzenden Feldern: Drei Versuche zu einem Gedanken.
Die einzelnen Linien sind von gleicher Länge bis zum nächsten Abschnitt. Ihre Verläufe meinen eine gerade Linie, ihre Abstände scheinen bemessen, sie nähern sich immer von Neuem der Ideallinie an. In diesem Bemühen sind sie differenziert und offenbaren ihre lebendige Struktur.
Wer diese Verläufe und Strukturen, wer das System der Reihen und Zwischenräume wie auf dem Acker oder in einem Gedicht verfolgt, kann die Einfachheit des Äußeren unendlich vertiefen nach eigenem Ermessen.

 

Johannes Kimstedt – Erläuterungstext zur Aufführung der Improvisation Linientreu 2005 durch das

ver.sus.trio bei MAKROMUSIK Kunst aus den Fugen im Museum für angewandte Kunst in Köln am 25.01.06

 

 

… Johannes Kimstedt behauptet in seinen Werken die Kraft des Bildes, gegenüber dem geschriebenen Wort wie gegenüber allen bereits gemalten Bildern. Seine zweiteiligen, kleinformatigen Arbeiten suchen diese Behauptung jedoch in einer (selbst-)reflexiven Untersuchungsanordnung. Jeweils die linke der beiden Bildteile stellt (auch) eine Tafel dar: sie ist von tafelgrüner Farbe und zeilenförmig von handgezogenen Kreidelinien strukturiert, die wiederum von zwei senkrechten Linien bildhaft gerahmt werden. Die rechten Tafeln stellen exemplarisch ein Bild gestischer Malerei (gelb-rot), sowie monochromen Blaus dar. Gegen die Wiederholung einer Malerei, die sich paradox zur Bildfläche verhält und jener, die von einer informellen Botschaft überzogen ist, hält Kimstedt wiederholt jene Tafel, deren Leerzeilen die mögliche Sprache des Bildes bezeichnen, die in der Abwesenheit von Schrift auf ein virtuelles Bild als strukturiertes Kraftfeld anspielen. Jedes der Bild-Paare ist sowohl als gleichwertige Gegenüberstellung von unterschiedlichen Bildkonzepten und –inhalten zu verstehen (‚leeres’, offenes System – ausformuliertes, geschlossenes System) wie auch in einem wechselseitig kommentierenden Verhältnis. Folgt man der bei uns konventionellen Leserichtung von links nach rechts, dann kommt dem rechten Bild eine illustrierende Funktion zu. Gäbe man diesem Bild die Priorität, wäre die linke Tafel Träger eines noch zu formulierenden Kommentars um Bild. Das Format der Werke ist überdies zwitterhaft auf die Dimensionen eines Tafel-Bildes wie auf die eines Notizbuches zu beziehen.

 

(aus: Angelika Stepken im Katalog: ZEICHEN – RAUM – ZEICHEN ; Berlin 1990)

 

 

…die kleinen Bildtafeln von Johannes Kimstedt arbeiten (dagegen) mit einem ambivalenten Verhältnis von Bild- und Schriftsprache. Die leeren Zeilen auf grünem Tafelgrund mögen als Kommentarebene zum Bild oder – umgekehrt – das Bild als Illustration eines nicht geschriebenen Textes gesehen werden. Jedes einzelne Bild ist mehr oder weniger zufällig entstanden – ein kalkuliertes Spiel mit dem Zufall tropfender Farbe und ein Kalkulieren mit den Sehgewohnheiten der Bildbetrachtung. Ein weißer Rand lenkt den Blick ins „Innere“ des Bildes: dort werden die Punkte auf der Mikro-Fläche bedeutsam als Einbildungen eines Ausschnitts aus dem Makro-Raum, dem Universum. Der Titel des Werkes „bibliotheca globalis“ spielt auf die Erklärung, Erfassung des Unendlichen an. Während die Zeilen der heftgroßen Bildteile leer, „unerfüllt“ bleiben, spiegelt sich das Bildmotiv in der im Prinzip unendlichen Wiederholung der Bild-Paare. Gleichzeitig objektiviert Kimstedt dieses Verfahren modellhaft, indem er das Werk nicht im großen Bildformat, sondern wie Darstellungen eines Bildes im (Buch-)Seitenformat ausführt. Der Zufall der Bildproduktion, das Farb-Dripping, nimmt darüber hinaus ironisch Bezug auf Künstler wie Jackson Pollock (s. Katharina Karrenberg), die Malerei ungebrochen als „natürliche“ Handlung verstehen woll(t)en.

 

(aus: Angelika Stepken im Katalog: CALCULI – Neuer Berliner Kunstverein 1991)

 

 

… in den schwarzen Löchern der Logik bewegt sich die Kunst. Es sind die Zeichnungen Kimstedts, die als Spur und Struktur gleichzeitig über das hinausweisen, was bestimmt darstellbar ist. Sie bezeichnen die Möglichkeit des Unwahrscheinlichen als Indiz der Kunst.

 

(aus: Angelika Stepken: 1 + 1 , Katalog: Johannes Kimstedt , märz galerien 1992)

 

 

… In einer früheren Werkphase hat Kimstedt Mallappen, Reste zerschnittener Hemden, Teile abgebrauchter Betttücher, die der Maler verwendet, um seine Pinsel darin abzuwischen, zu Bildern gemacht – indem er sie mit anderen Farb- oder Malereiflächen in Zusammenhang brachte, oder indem er ihnen einfach einen Rahmen gab und sie damit zum Kunstwerk erklärte. Es ist die Ästhetik des Kleckses, die hier angesprochen wird und die schon Leonardo zu schätzen wusste: „Meiner Meinung nach ist es nicht zu verachten, wenn einer, der den Klecks an der Wand, die Kohlen auf dem Rost, die Wolken, den fließenden Stromgenau angestarrt hat, sich dann wieder an ihre Asdpekte erinnert. Wenn Du sie sorgsam betrachtest, wirst Du einige wunderbare Erfindungen machen“, erklärte Leonardo da Vinci in seinem Trattato della pittura, den wiederum Max Ernst als historische Unterfütterung seines surrealistischen Verfahrens der Frottage zitiert. Kimstedt ging es allerdings weniger um die „wunderbaren Erfindungen“, die sich aus einem Klecks ableiten lassen, als eher um die ästhetische, „malerische“ Wirkung des verunreinigten Materials. Die Malerei auf dem Lappen für die Pinsel ist noch in weitaus stärkerem Maße absichtslos, als es das Informel je sein kann; sie ist das Abfallprodukt einer Nebenbei-Tätigkeit. Von daher ist die Zahl der Mallappen-Bilder notwendigerweise beschränkt, ein Manko, des der Maler nur durch Nachahmung ausgleichen könnte. Das Ergebnis wären Gemälde statt Mallappen.
So hat sich denn Johannes Kimstedt für eine Malweise entschieden, die Absichtslosigkeit signalisiert, ohne die Ästhetik des Zufälligen zu imitieren – eben jene automatische Niederschrift, die fortlaufend Zeichen produziert. Ein beinahe mechanisches Verfahren.
Wie wenig dahinter der nervöse Drang steht, immer neue Erfindungen offerieren zu müssen, wird an der wieder- und wiederkehrenden Wiederholung einzelner Zeichen ebenso sichtbar wie an dem völligen verzicht auf gezeichnete, gegenständliche „Einschübe“, wie sie noch in früheren Arbeiten aus dem Getümmel der Kürzel auftauchten.

 

(aus: Michael Hübl im Katalog Johannes Kimstedt – Textile 1986)